E-Learning: Einführung in die lateinische Metrik

 


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"Hexameter"

 

 

 

9. Saturnier

Das nach dem römischen Gott Saturnus benannte Versmass ist nicht nur das älteste, sondern gilt auch als das einzige echt römische Versmass. Wie bereits in Kapitel 3.1 erläutert wurde, hat Ennius den daktylischen Hexameter in die lateinische Dichtung eingeführt, indem er in seinen Annalen die homerischen Epen auch metrisch imitierte. Ennius stellt den Saturnier in ann. 213 als etwas Antiquiertes dar, als Versmass, in dem einst Faune und Dichter gesungen haben: scripsere alii rem / versibus, quos olim Fauni vatesque canebant. Der Saturnier wurde vor Ennius nicht nur vom ältesten bekannten lateinischen Dichter überhaupt, von Livius Andronicus (in seiner Odyssee-Übertragung), sondern auch von Naevius in seinem Bellum Punicum verwendet. Zudem ist der Saturnier inschriftlich belegt, wo er noch etwas länger in Gebrauch war, während er in der sonstigen Dichtung nach Naevius verschwand.

Die Struktur des Saturniers konnte in der Forschung bislang nicht vollständig erklärt werden. Schwierigkeiten bereiten einerseits das beschränkte Material (es sind nur ca. 150 Saturnier erhalten) und die oft fehlerhafte (indirekte) Überlieferung, andererseits die prosodischen Eigenheiten der altlateinischen Dichtung (Jambenkürzung? Hiat oder Elision? etc.). Versuchen Sie dennoch, anhand der folgenden Beispiele einige Charakteristika des Saturniers herauszuarbeiten. Die Verse könnten teilweise auch anders skandiert werden (z. B. mit Elision statt Hiat):

Liv. Andr. Od. 1:

Vĭrūm mĭhī, Cămēnăh, īnsĕcĕ vērsūtŭm

Liv. Andr. Od. 15:

ĭbī mănēns sĕdētō dōnĭcūm vĭdēbĭs

mē cārpēntō vĕhēntēm dŏmūm vēnīssĕ

Naev. carm. fr. 5,2-3 (aus dem Bellum Punicum):

nōctū Trōiād ēxībānt căpĭtĭbŭs ŏpērtīs,

flēntēs āmbāeh, ăbĕūntēs lăcrĭmīs cūm mūltīs.

Metellorum versus in Naevium (vgl. Blänsdorf 31995, 72):

mălūm dăbūnt Mĕtēllī Nāevĭō pŏētāe

Epitaphium Naevii (aus Gell. 1,24,2):

īnmōrtālēs mōrtālēs sī fŏrēt fās flērĕ,

flērēnt dīuāe Cămēnāe Nāeuĭūm pŏētăm.

ĭtăquĕ pōstquămh ēst Ōrchō trādĭtūs thēsāurō,

ōblītī sūnt Rōmāe lŏquĭēr līnguā Lătīnā.

 

In seiner Abhandlung De metris hat Caesius Bassus, ein Grammatiker aus der Zeit Neros, auch den Saturnier behandelt. Als typisches Beispiel nennt er den soeben zitierten Vers mălūm dăbūnt Mĕtēllī Nāevĭō pŏētāe (vgl. Grammatici Latini, ed. Keil, Bd. 6, S. 266). Während antike Metriker wie Caesius Bassus auch den Saturnier aus der griechischen Metrik herleiteten, gilt das Versmass in der modernen Forschung mehrheitlich (wie eingangs gesagt) als genuin römisch (zur möglichen Anknüpfung an indogermanische Metren vgl. West 2007, 51f.). Aufgrund des Variantenreichtums und der vielseitigen Unsicherheiten ist es noch immer nicht gelungen, ein überzeugendes Schema zu erstellen, das allen Variationen gerecht wird. Das Grundschema von West 2007, 52 vermag dies zwar, ist dafür aber sehr offen:

× × × × | × ⏓ × | × × × × ×́ × ||

Was West dazu schreibt, kann als minimaler Konsens in der Forschung angesehen werden:

„a seven-syllable colon, usually with caesura after the fourth syllable, in syzygy [Verbindung] with a six-syllable colon of which the penultimate syllable is stressed (and most often long). There are many irregularities in the number of syllables, most of which can be explained by special rules or put down to faulty transmission, but this description may be taken as the basis for discussion.“

Das auffälligste Charakteristikum des Saturniers ist sicherlich die Mitteldiärese (Hiat davor ist erlaubt; Elision wird gemieden). Daher werden diese Verse gerne auch so gedruckt:

malum dabunt Metelli        Naevio poetae

Das Kolon vor der Mitteldiärese besteht oft aus sieben, das Kolon nach der Mitteldiärese oft aus sechs Silben. Nicht selten finden sich zusätzlich zwei Nebendiäresen, die den Vers in vier Teile gliedern: mălūm dăbūnt | Mĕtēllī | Nāevĭō | pŏētāe. Ein solcher Saturnier kann als Verbindung von einem katalektischen jambischen Quaternar und einer trochäischen Tripodie (bzw. einem Ithyphallikus) gedeutet werden. Allerdings finden sich auch Saturnier mit lediglich fünf Silben nach der Mitteldiärese (z.B. aus den Beispielen oben: me carpento vehentem | domum venisse). Dies lässt sich dann als Verbindung von einem katalektischen jambischen Quaternar mit einem Reizianischen Kolon (vgl. Kapitel 7.3) beschreiben. Zwei häufige Schemata für den Saturnier in der modernen Sekundärliteratur sind daher:

× ‒ × ⏓ ⁞ × ‒ ⏓ | ‒ ⏑ ⏓ ⁞ × ‒ ⏓

(≈ katal. jamb. Quaternar | troch. Tripodie)

× ‒ × ⏓ ⁞ × ‒ ⏓ | × ‒ × ‒ ⏓

(≈ katal. jamb. Quaternar | Reiz. Kolon)

Wie Sie bei der einführenden Übung zum Saturnier sicher bemerkt haben, lässt sich aber etwa der oben zitierte Vers ōblītī sūnt Rōmāe | lŏquĭēr līnguā Lătīnā anhand dieser beiden Schemata nicht recht erklären: Sein erstes Kolon besteht aus sechs, sein zweites Kolon aus acht Silben. Es sei denn, man setzt die Mitteldiärese hinter loquier und geht bei diesem Wort von einer Auflösung aus. Oder man druckt die altlateinische Form Rōmāī, wodurch man im ersten Kolon eine Silbe mehr bekommt (so Crusius/‌Rubenbauer 21955, 48; vgl. dazu auch Cole 1969, 24). Dieser Vers soll die Schwierigkeiten bei der Analyse von Saturniern exemplarisch aufzeigen.

 

Literaturhinweise zum Saturnier: Boldrini 1999, 86-90, Cole 1969, Crusius/‌Rubenbauer 21955, 45-48, Lindsay 1922, 9f., West 2007, 51f. und Zgoll 2012, 87f.

 

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