E-Learning: Einführung in die lateinische Metrik

 


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"Hexameter"

 

 

 

1. Grundlagen der lateinischen Metrik

In diesem Kapitel zu den Grundlagen der lateinischen Metrik soll zunächst ein erstes, kurzes Beispiel zeigen, in welcher Hinsicht das Skandieren (das taktmässige Lesen) bei der Interpretation fruchtbar gemacht werden kann. Anschliessend werden die allgemeinen Charakteristika der lateinischen Metrik behandelt. Dabei geht es insbesondere um den Unterschied zur deutschen Metrik sowie um die Frage, wie lateinische Verse gelesen werden. Die ersten Zeichen und Abkürzungen aus dem Bereich der Metrik sollen die Grundlage für das nächste Unterkapitel bilden, die Einführung in die metrischen Grundbegriffe.

 

1.1 Wozu Metrik? Ein erstes Beispiel

Wenn sich jemand für ein Latein-Studium entscheidet, dürfte es in der Regel nicht die Aussicht auf eine Einführung in die Metrik gewesen sein, die dafür ausschlaggebend war. Gelinde gesagt, ist ein solches Modul für viele ein ‚notwendiges Übel‘. Daher soll in dieser Einführung immer wieder versucht werden zu zeigen, welche Bereicherung aus einer genauen Analyse der Metrik eines poetischen Textes gewonnen werden kann.

Nachdem sich Aeneas im 8. Buch von Vergils Aeneis die Unterstützung von Euander gesichert hat, bricht er mit seinen neuen Verbündeten zum etruskischen Lager auf, um auch deren König Tarchon auf ihre Seite zu bringen. In der Beschreibung des Aufbruchs von Aeneas und seinem Heer findet sich folgender Hexameter.

Verg. Aen. 8,596: quadripedante putrem sonitu quatit ungula campum.

Vielleicht kennen Sie die Struktur eines Hexameters bereits: Als Grundform hat er das Metrum des Daktylus (‒ ⏑ ⏑), wobei die beiden Kürzen auch durch eine Länge ersetzt sein können (‒ ‒). Das letzte, das 6. Metrum, besteht dabei immer nur aus zwei Silben (‒ ×). Wenn wir die sechs festen Längen in diesem Hexameter markieren, sieht dies folgendermassen aus:

Verg. Aen. 8,596: quādripedānte putrēm sonitū quatit ūngula cāmpum.

Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass dieser Hexameter ausschliesslich aus Daktylen besteht und keine Spondeen (‒ ‒) enthält. Seine metrische Struktur ist demnach: 1 ‒ ⏑ ⏑, 2 ‒ ⏑ ⏑, 3 ‒ ⏑ ⏑, 4 ‒ ⏑ ⏑, 5 ‒ ⏑ ⏑, 6 ‒ ×. In der metrischen Übersetzung von Wilhelm Plankl (1989) wird der Vers folgendermassen wiedergegeben:

„Donnernd zerstampft im Galoppe der Huf den trockenen Boden.“

Dieser Aeneis-Vers ist ein berühmtes Beispiel dafür, dass die Metrik dazu genutzt werden kann, um Inhalte zu ‚untermalen‘. Williams schreibt in seinem Aeneis-Kommentar von 1973 zu diesem Hexameter: „A famous example of imitative rhythm, where the dactyls and harsh consonants convey [dt. „vermitteln“] the sound of galopping.“ Wer sich um eine Analyse der Längen und Kürzen bemüht, kann einem Text demnach oft weiteres Sinnpotential entlocken.

Wenn eine metrische Übersetzung angestrebt wird, kann versucht werden, solche Eigenheiten des Ursprungstexts zu bewahren. Analysieren Sie nun, ob Wilhelm Plankl dies getan hat:

„Dónnernd zerstámpft im Galóppe der Húf den tróckenen Bóden.“

Nach drei daktylisch realisierten Metren („Dónnernd zerstámpft im Galóppe der“) folgt im vierten Metrum eine Abweichung von der lateinischen Versstruktur („Húf den“): Dieses Metrum ist nur durch zwei Silben realisiert. Hätte man den Rhythmus des vergilischen Hexameters nicht nachbilden können, indem eine Kleinigkeit geändert wird? Ich meine schon, hier ein Vorschlag:

„Dónnernd zerstámpft im Galóppe der Húf den getróckneten Bóden.“

Vergil spielt in diesem Vers auf den zweiten Teil des Hexameters in Fragment 263 von Ennius’ Annalen an: cōnsequitūr. summō sonitū quatit ūngula tērram – „… Mit lautestem Klang zerstampft der Huf den Boden.“ Auffallend ist insbesondere die wörtliche Entsprechung von sonitu quatit ungula bei Vergil und Ennius. Doch Vergil hat seinen Vorgänger überboten (aemulatio, nicht bloss imitatio!), indem er dem Hexameter durch die rein daktylische Realisierung auch noch eine lautmalerische Note gab (vgl. dazu Holzberg 2006, 111)!

 

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