E-Learning: Einführung in die lateinische Metrik

 


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"Hexameter"

 

 

 

1.3 Hinweise zum Lesen lateinischer Verse

Nach einem kurzen Blick auf die ersten Worte der Aeneis (arma virumque cano) wenden wir uns nun dem Anfang dieses Epos in zwei verschiedenen Übersetzungen zu. Edith und Gerhard Binder haben in der jüngsten Reclam-Ausgabe (1994-2005) Prosa verwendet:

Vom Krieg singe ich und dem Helden, der als erster von Troias Küste durch Schicksalsspruch, ein Flüchtling, nach Italien kam und zum Gestade Laviniums …

Da der Rhythmus in dieser Übersetzung nicht nachgebildet wurde, war es möglich, dem Wortlaut und der Gedankenabfolge des lateinischen Textes sehr genau zu folgen:

Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris
Italiam fato profugus Laviniaque venit
litora …

Bei metrischen Übersetzungen hingegen müssen oft gewisse Abstriche gemacht werden, um den Gesetzmässigkeiten des Rhythmus entsprechen zu können. Johann Heinrich Voss hat in seiner 1799 erstmals (ebenfalls bei Reclam) erschienen Ausgabe deutsche Hexameter nachgebildet:

Waffen ertönt mein Gesang und den Mann, der vom Troergefild’ einst
Kam, durch Schicksal verbannt, nach Italia und der Laviner
Wogendem Strand.

Da das Deutsche eine akzentuierende Sprache ist, werden die im Folgenden markierten Silben lauter gesprochen:

Wáffen ertónt mein Gesáng und den Mánn, der vom Tróergefíld’ einst
Kám, durch Schícksal verbánnt, nach Itália únd der Lavíner
Wógendem Stránd.

Nach der üblichen ‚Schulaussprache‘ wird diese Vortragsweise auf das Lateinische übertragen, indem bei den festen Längen im Hexameter ein vokalischer Akzent (lat. ictus „Takt“) gesetzt wird. Aus diesem Grund wird der Anfang der Aeneis gewöhnlich – analog zum Deutschen – mit einer lauteren Aussprache der folgenden Silben rezitiert:

Árma virúmque canó, Troiáe qui prímus ab óris
Ítaliám fató profugús Lavíniaque vénit
lítora …

Wie bereits in Kapitel 1.2 dargelegt wurde, war das Lateinische aber eigentlich eine quantitierende Sprache. Man würde daher der historischen Realität zur Zeit Vergils näher kommen, wenn man lediglich die Längen und Kürzen berücksichtigen und Dichtung wie Prosa lesen würde:

„Die Römer lasen ihre Verse genau so wie Prosa; der Rhythmus ergab sich durch die Abfolge von Quantitäten, die als Vers erkennbar waren, wenn sie den Erwartungen entsprachen, die das Idealmodell hervorrief.“

Boldrini 1999, 22

Inwiefern bei der Lektüre auch noch der Wortakzent (man denke an cánō) eine Rolle spielte, bleibt in der modernen Forschung umstritten. Momentan tendiert man zur Ansicht, dass der natürliche Wortakzent in der Antike nicht vernachlässigt wurde. Allerdings wurde er nicht durch Tonstärke, sondern durch Tonhöhe realisiert. Wer dies einüben und nachahmen möchte, sei auf den Aufsatz von Stroh 1990 und das E-Learning-Modul Viva Vox meiner lieben Kollegen aus Giessen hingewiesen.

Auch wenn man das ‚falsche‘ (oder vielleicht besser: nicht historisch korrekte) Lesen lateinischer Verse akzeptiert, ist es sehr wichtig, sich bewusst zu sein, dass man hiermit eine Aussprache der Verse praktiziert, die sich erst gegen Ende des 2. Jh. n. Chr. entwickelt hat. In dieser Zeit schwand nämlich auch im Lateinischen die Bedeutung des musikalischen Akzents. Wir halten es daher erneut mit Boldrini:

„[…] wir können nicht umhin, die Vortragsweise, die uns die Schultradition auferlegt hat, in der Schule anzuwenden, aber wenigstens im Bewusstsein, dass die Römer ihre Dichtung nicht wie wir lasen, während wir faktisch gezwungen sind, Kürzen und Längen wie ein Buchhalter auszurechnen.“

Boldrini 1999, 24

 

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