E-Learning: Einführung in die lateinische Metrik

 


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"Hexameter"

 

 

 

2.3 Brevis in longo

Vor Pausen kann in der lateinischen Prosodie eine (scheinbar) kurze Silbe auftreten, wo man metrisch eine lange Silbe erwarten würde. In diesem Fällen wird die Silbe gleichsam durch die Pause gelängt. Metrische Handbücher verwenden hierfür gewöhnlich den Begriff brevis in longo, d.h. (syllaba) brevis in (elemento) longo, und bezeichnen das Phänomen mit unterschiedlichen Zeichen: Während in vielen Werken (und auch in dieser Einführung) ein × (für elementum anceps) verwendet wird, greift Zgoll 2012, 46 auf das Zeichen ⏓ zurück (vgl. jedoch dessen Bedeutung in 1.4.2) und kreiert Boldrini 1999, 70 das (neue) Zeichen Spezialzeichen für brevis in longo am Versende (jeweils für elementum indifferens).

Mit brevis in longo kann beispielsweise das Versende eines Hexameters erklärt werden. Bereits in Kapitel 1.1 wurde dessen Ende als ‒ × beschrieben. Dies bedeutet, dass im Hexameter nach der sechsten festen Länge eine Länge (z.B. in Verg. Aen. 1,1 … ab orīs, vgl. Kapitel 2.1) oder eine Kürze (z.B. in Verg. Aen. 1,2 … venĭt) stehen kann. Wenn ein Hexameter wie im zweiten Fall auf ‒ ⏑ endet, kann man ihn katalektisch nennen (vgl. zu diesem Begriff Kapitel 1.5.1) oder davon sprechen, dass die Kürze vor dem Periodenende gelängt wird: als syllaba brevis in elemento longo. (Vgl. dazu besonders Zgoll 2012, 45f. und 91.)

Da nicht nur Vers- bzw. Periodenenden, sondern auch Zäsuren und Diäresen (vgl. dazu Kapitel 1.5.3) Pausen im lateinischen Vers bilden, kann brevis in longo auch vor Zäsuren und Diäresen auftreten. Ein Beispiel hierfür ist der Hexameter in Verg. ecl. 1,38:

Tityrus hinc aberat. ipsae te, Tityre, pinus …

Der Vers beginnt mit zwei Daktylen: Tityrus hinc aberat ist als 1 ‒ ⏑ ⏑, 2 ‒ ⏑ ⏑, 3 ‒ zu analysieren. Die Endsilbe von aberat ist demnach eindeutig lang zu messen, obwohl diese Endung eigentlich einen Kurzvokal hat (vgl. dazu z.B. Rubenbauer/Hofmann §79 oder Zgoll 2012, 55). Die Silbe wird durch die (auch syntaktische, durch einen Punkt markierte) Pause gelängt, was als brevis in longo ante caesuram bezeichnet werden kann.

Ein ähnliches Phänomen liegt bei der sogennanten ‚metrischen Dehnung‘ vor. Bei Eigennamen, die sonst nicht ins Versmass passen würden, kann (wie im Griechischen) ein Kurzvokal metrisch gedehnt werden. Das Land Italien hat eigentlich eine Kürze am Anfang Ĭtălĭă (oder mit konsonantischem i und Längung der Silbe davor: Ĭtāljă), wird aber in Verg. Aen. 1,2 am Anfang des Hexamters verwendet: Italiam fato profugus … (vgl. dazu bereits Quint. inst. 1,5,18).

 

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