E-Learning: Einführung in die lateinische Metrik

 


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"Hexameter"

 

 

 

1.5.2 Vers, Periode, Kolon, Klausel, Strophe

Der Begriff ‚Vers‘ geht auf das lateinische versus, ūs, m. „das Umwenden“ zurück und bezeichnet demnach ursprünglich das, was der Schreiber eines Textes auf eine Zeile setzt, bevor er auf die nächste Zeile übergeht. Im dichterischen Kontext impliziert versus zudem eine rhythmisch regelmässig wiederkehrende Einheit.
Nach dem ersten Hexameter der Aeneis (Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris) wird beispielsweise auf die nächste Zeile im Druck gewechselt, um anzuzeigen, dass sich diese metrische Einheit im Folgenden ständig wiederholt. Wird ein poetischer Text fortlaufend niedergeschrieben, kann ein Versende durch das Zeichen || signalisiert werden. Im Falle der Aeneis ist dies nicht nötig, da das Versende bereits durch das Druckbild angezeigt wird.

Anstelle von ‚Vers‘ wird oft auch von ‚Periode‘ gesprochen. In der Metrik bezeichnet dieser Begriff demnach ebenfalls eine metrische Einheit, die durch eine Pause abgeschlossen wird (z.B. also ein Hexameter in Vergils Aeneis). Manchmal ist es aus drucktechnischen Gründen nicht möglich, eine solche Einheit auf einer Zeile darzustellen, weil der Text zu lange ist. Dann wird besonders oft von Perioden anstelle von Versen gesprochen.

Nicht alle Versmasse der lateinischen Dichtung werden in Füsse oder Metren gegliedert. In diesem Fall kann man von einem Kolon (von κῶλον „Glied“) als metrische Einheit sprechen. Ein Kolon lässt sich gemäss Martin West (1937–2015, bedeutender Gräzist und Verfasser eines Metrik-Standardwerks für das Griechische) folgendermassen definieren:

„Das Kolon ist eine an ihrer charakteristischen Abfolge von langen und kurzen Silben erkennbare metrische Phrase von bis zu etwa zwölf Silben.“

West in Der Neue Pauly 8 (2000) 116

Ein Beispiel für ein Kolon aus den äolischen Versmassen ist der Glykoneus, der die folgende, nicht in Füssen oder Metren unterteilbare Struktur aufweist: ○ ○ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ⏓. In einigen Gedichten, z.B. in Catull. 34, folgen auf Glykoneen in regelmässigem Abstand so genannte Pherekrateen: ○ ○ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏓.

Pherekrateen sind um ein Element verkürzte, d.h. katalektische Glykoneen und dienen in diesen Gedichten als Klauseln. Damit werden demnach – wie es der Name schon sagt (clausula zu lat. claudo „schliessen“) – Kola bezeichnet, die den „Abschluss“ einer Strophe bilden können. Mit diesem Ihnen sicher aus der Musik bekannten Begriff wird eine Abfolge verschiedener Verse bezeichnet, die in sich geschlossen ist und sich regelmässig wiederholt. Meist umfassen Strophen in der lateinischen Dichtung nicht mehr als vier Verse und sind nach einem Schema (z.B. A A A B, d.h. dreimal ein Kolon und dann noch ein anderes Kolon als Klausel) gebaut. Während man in diesen Fällen von strophischen Kompositionen spricht, kann man ein Epos wie die Aeneis als „stichische“ (d.h. „zeilenweise“) Komposition bezeichnen.

Überlegen Sie sich nun als kleine Übung, mit welchen Begriffen die Zeilen 5-8 aus dem soeben genannten 34. Gedicht von Catull bezeichnet, und wie sie metrisch analysiert werden können. In einer modernen Ausgabe finden Sie die Zeilen folgendermassen abgedruckt:

o Latonia, maximi

magna progenies Iovis,

quam mater prope Deliam

deposivit olivam …

Lösung

Diese Anrede an die Göttin Diana (dt. etwa „Oh Tochter der Lato, grosses Kind des grössten Jupiters, welche die Mutter in der Nähe eines Ölbaums auf Delos gebar …“) wird in modernen Textausgaben auf vier Zeilen abgedruckt, da sie aus vier (teilweise verschiedenen) Kola besteht:

Auf drei Glykoneen (○ ○ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ⏓) folgt ein Pherekrateus (○ ○ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏓) als Klausel, das Schema ist demnach A A A B.

Die vierte Zeile wird im Druck eingerückt, um anzuzeigen, dass hier ein Strophenende (in der Analyse mit ||| bezeichnet) folgt. Denn die Verse 5-8 von Catulls 34. Gedicht bilden die zweite von insgesamt sechs Strophen, deren metrische Struktur immer gleich ist.

Selbstverständlich wird das hier verwendete Versmass später noch ausführlicher thematisieret (vgl. Kapitel 8.1). Wer sich für eine Analyse des ganzen Gedichts interessiert, findet diese in Zgoll 2012, 149f.

 

 

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